Emin da Silva: Vom Flüchtling zum Laufkünstler

« Vor 30 Jahren kam Emin da Silva als Flücht­­ling nach Deutsch­land. Eigent­lich hatte er die Hoff­nung, als Fuß­baller in seiner neuen Heimat durch­zu­starten. Doch daraus wurde nichts, insbe­sondere infolge einer Verletzung. Aber Aufgeben, dass passt nicht zu Emin da Silva, dessen Geschichte euch sicher genauso begei­stern und bewegen wird wie uns. Nachfolgend das komplette Interview des Experten Markus Gretz mit Emin da Silva in Textform sowie als Audio-Mitschnitt (unten). »    

Zum Thema: Leistungsmotivation im Sport


♦ Wie bist du auf die Idee gekommen, so extreme Läufe wie „45-Stunden“ oder mehrere „Marathons hinter­einander“ zu laufen? Und auch jetzt diese Idee mit dem Marathon „auf einem Bein“ hüpfend. Wie kam es zu dieser Idee?


Emin da Silva: „Ja also, sowas entsteht ja sicher­lich nicht über Nacht. Es ist vieles passiert oder es musste vieles passieren. Bis man sich irgendwo selbst entdeckt und sich neue Ziele setzt.

Eigentlich, wenn man mich nicht so richtig kennt, kann man sich nicht hinein­versetzen, um zu wissen was einem passiert ist – wie kommt ein Mensch auf diese Ideen? Folgendes: ich habe eine brisante Geschichte, die mich prägt und [die erklärt] wie ich dann überhaupt mit dem Laufen in Berührung gekommen bin.

Dabei spielt vieles eine Rolle und zwar – ich bin seit 30 Jah­ren hier in Deutsch­land und die ersten 10 Jahre davon war ich in Asyl­be­wer­ber­heimen, ich bin als Flücht­ling hier angekom­men. Und ich hatte viel Zeit und keine Perspektive, kein Ziel.

Und da wurde ich nur geduldet in diesen 10 Jahren, eine Arbeits­erlaubnis, ein Studium oder eine Aus­bil­dung und sowas waren mir nicht gestat­tet. Man ist in einem Heim als 18-jähriger junger Mann – als erstes kommt man natür­lich von einem Land, das weder kulturell noch mental [mit dem hier] passt, keines­wegs passt irgendetwas zusammen.

Ich komme ursprünglich aus der Türkei und dann bin ich hier – nun, was passiert, was machst du, du bist so ein junger Mann, könntest Bäume ausreißen, aber du darfst sie nicht aus­reißen? Das ist noch das Problem gewesen.

Dann in den Heimen, der Alltag, die Struktur­losigkeit, Leute, die zurück­fallen, die keine Geduld haben, die hoffen, etwas voran­zukom­men. Alles, was man hinter­las­sen hat, ist eine Sache die einen schmerzt. Man hat seine ganzen Wurzeln in der Heimat verlas­sen, dann kommt man hierher und hat keine Wurzeln mehr.“

Sport gab und gibt mir Halt

Emin da Silva: „Da hat man bildlich gesprochen den halben Stamm, der aber noch Wurzeln entwickeln muss. Das waren so ganz, ganz schwierige Zeiten, die mich geprägt hatten und der Sport war und ist und wird auch – oder war zumindest in den Zeiten mein einziger Anker. Mein Anker, durch den ich dann über­haupt eine Rich­tung hatte, womit ich teil­weise meine Zeiten damit füllen konnte. Und mein Gedanke war, dass ich dadurch neue Idee fassen konnte und dem Alltag entkom­men konnte. Und in den Heimen waren so viele, viele Flücht­linge, Menschen, die auch in der gleichen Situation waren wie ich.

So ohne Ziel, ohne Hoffnung, so viele davon sind abgerutscht und abge­schoben worden oder sogar im Gefängnis gelandet. Und also leider Gottes kann man sagen, wenn man dann kein Ziel hat, sich auch keine Ziele setzen kann, dann passieren sehr viele Dinge. Der Boden war glatt, Gefahren, lauerten an jeder Ecke Fehler zu machen. Und dadurch war der Sport für mich so der Haupt­anker, womit ich mir dann in der Gesell­schaft einen gewissen Platz erarbeiten konnte. Und nach und nach konnte in den ersten Vereinen Kontakte und Freund­schaften knüpfen und meine ersten deutschen Worte lernen.“

Schritt für Schritt

Emin da Silva: „Und so merkte ich Schritt für Schritt, es passiert was, aber du musst selbst auch dran glauben und das selbst ansteuern, keiner kommt so richtig auf dich zu. Wenn man in diesen Heimen ist, ist man eine halbwegs verlorene Person. Keinen interes­siert es so wirklich. Ich habe auch immer wieder Menschen ken­nen­gelernt – wenn ich dann mit meinem gebro­che­nen Deutsch in 3 Sätzen etwas versucht habe zu erklären kam: „Ja, was machst du, wer bist du und woher kommst du?“

Sobald man dann sagte, man hat keine Arbeit, ich spreche nicht Deutsch, dann war sofort das Interesse der Menschen weg und so musste ich mir immer neue Hoff­nung schöpfen, neue Menschen kennen­lernen, neue Mecha­nismen entdecken: Wie komme ich voran? In diesen Zeiten war es so, dass ich durch mein Eigen­enga­gement und dann durch den Sport überlebt habe – und meinen ersten Marathon machen konnte.

Emin da Silva beim Vorbereitungs-Training für den Wien-Marathon 2021 (Foto © Eike Nienaber)

Ich war ein guter Fußballer zuerst in der Türkei und ich hatte auch gute Hoff­nungen weit nach oben zu kommen – und durch diese Flucht hierher war alles kaputt, der Kopf war voll, ich konnte erst mal keinen Sport machen und mir keine richtigen Ziele setzen.

Zuerst habe ich in Bremen weiterhin Fußball gespielt bei einigen Vereinen und durch eine Verlet­zung musste ich leider lange pausieren und dann habe ich irgendwie nicht mehr den Anschluss gefun­den zum Fußball. Dann habe ich ein kleinere Lauf­ein­heiten gemacht, durch das Fußball­training hatte ich gewisse Grundlagen.

Dann habe ich mich bei ein paar kleinen City-Läufen hier in Bremen ange­meldet und mit­gemacht und gemerkt – das geht schon irgendwie, 5 Kilo­meter auf 17 Minu­ten, das hat mich dann moti­viert, dadurch kam ich Schritt für Schritt in dieses Gefühl hinein. Als ich dann auch die ersten kleinen Wett­bewerbe hatte, wovon ich auch einige gewann, meine erste Medaille, mein erster Pokal, die erste schöne Urkunde, die Aner­kennung der Leute um mich herum hat mich plötz­lich so von den Schatten­seiten in die Sonnenseite gezogen.

Ich leckte Blut, mehr und mehr daraus zu machen und es wurde immer mehr und jedes Wochenende war halbwegs was geplant. Die Leute mochten mich, haben mich mit­ge­nom­men mit ihren Autos zu Wett­bewerben. Ich war dann irgend­wann doch in einem ersten Leicht­athletik Verein angemeldet und dort entstanden Freundschaften.“

Mein erster Marathon. So fing alles an.

Emin da Silva: „Die 10 Jahre konnte ich so füllen, mit dem Sport, in dieser Zeit. – 91 bin ich nach Deutsch­land gekom­men und 96 habe ich meinen ersten Marathon gemacht in Hamburg. Und das war das Bitterste meines Lebens. Ich hatte keiner­lei Ahnung, was Marathon ist oder wie lange es dauert oder – ich habe bisher wirklich nur 5 Kilo­meter Wett­kämpfe gemacht, ohne richtiges Training und das war’s, nicht mal 10 Kilo­meter. Und so habe ich den Mara­thon gemacht, aber die Lehre meines Lebens daraus gezogen – mir ging es drei Wochen lang beschissen auf Deutsch gesagt.

Und das war so die erste Berührung damit – die Zeit zu füllen, in Deutsch­land einen Sinn zu finden, Kontakte zu knüpfen und Deutsch zu lernen. Zu deiner Frage, wie ich dann irgend­wann auf die Idee gekom­men bin, solche extremen Sachen zu machen – nach diesen 10 Jahren wurde mein Asyl anerkannt. Ich habe eine Ausbil­dung machen dürfen zum Tischler­geselle, ich habe eine Tischler-Aus­bildung absolviert und mein Asyl wurde aner­kannt und schließ­lich hat sich das Blatt zu meinen Gunsten gewendet. Dass ich dann diese Strecke geschafft habe.

Ja, man dachte so, es gibt kein Licht am Ende des Tunnels und das war ein sehr langer Tunnel, durch den ich durch­ge­gangen bin und am Ende kam ich doch irgendwie zum Licht. Durch diese Moti­vation, jetzt ein neues Leben entdeckt zu haben und mein erstes Gehalt zu bekom­men – also sonst gab es ja Sozial­hilfe Leis­tungen und die waren begrenzt, als junger Mann hat man gewisse Bedürf­nisse, denen man nicht so nachgehen konnte.“

Asyl anerkannt

Emin da Silva: „Und durch die Asyl-Anerkennung, durch meine Ausbil­dung zum Tischler-Gesel­len habe ich meinen ersten Job bekom­men, wodurch ich auf einmal selb­ständig war und auch das Bundes­land verlas­sen durfte, denn 10 Jahre lang war es ja so, dass ich das Bundes­land Bremen eigent­lich nicht verlassen durfte, dennoch bin ich zwischen­durch immer wieder mal zu Wettkämpfen woanders hingegangen.

Ja, aber dann habe ich meinen ersten Urlaub geplant und irgendwie – plötz­lich war ich Teil der Gesell­schaft, hatte einen Arbeits­platz, war im Sport­verein, so konnte ich mitreden und war mittendrin. Und so habe ich es als Anlass genom­men – 2002, nach den 10 Jahren Asyl-Zeiten, die ich hatte – als Botschaft zurück­zugeben, versperrt die Menschen nicht, das Wasser findet seinen Weg, der Mensch muss seinen Weg zu gehen finden, bitte nicht sperren. Und aus dem Anlass habe ich einen Friedens­lauf gemacht 2002. Durch diese ganze Euphorie und Motivation habe ich mit Freunden, aus einem Fußball­verein einen Lauf organisiert von Hamburg nach Berlin, 10 Marathons in 10 Tagen.

Ich wollte die 10 Jahre, in denen ich hier halbwegs nichts tun konnte, als Botschaft geben und einen Friedens­lauf machen. Und so begann insgeheim plötz­lich eine andere Art von Energie in mir, dass ich da irgend­wie etwas machen sollte. Das habe ich gemacht und es hat eine ganz große Anerkennung gefunden.“

10 Marathons in 10 Tagen

Emin da Silva: „Auf die 10 Marathons in 10 Tagen habe ich mich ein halbes/drei­viertel Jahr gut vorbe­reitet gehabt, statt 5km habe ich dann längere Dauer­läufe gemacht. Und in 10 Tagen bin ich von Hamburg nach Berlin gelaufen, das war quasi der Durch­bruch und so richtig das Ankommen in Deutschland.

Und dann war auch lange Schluss, also dann im Nach­hinein habe ich gemerkt ok, jetzt hast du die Aner­ken­nung, jetzt hast du deinen Beruf, jetzt kannst du das und jenes machen, aber dennoch reichte es nicht in der Gesell­schaft weiter anzukom­men. Und ich habe einen befris­teten Arbeits­vertrag gehabt bei der Uni Bremen. Und nach einem Jahr war Schluss, wurde nicht verlän­gert und dann stand ich wieder da, als dreißig­jäh­riger Mensch, der eine schuli­schen Aus­bildung gemacht hat und bekam überall, wo ich mich bewor­ben hatte, Absagen oder wenn dann befristet oder über das Jobcenter.

Also das war wieder ein Kampf, trotz einiger Fort­schritte. Und wiederum habe ich immer wieder weiter­hin die Energie aus dem Sport geschöpft, den Sport habe ich Gott sei Dank nie aufge­geben, habe weiterhin irgendwas gemacht und auch zwischen­durch wieder einmal Fußball. Aber beruf­lich gab es immer wieder Hinder­nisse, bis ich dann gemerkt hatte – was mach ich denn jetzt, immer kleine Gehälter, Aushilfsjobs oder befristet, bis 2008 dauerte das.

Dann habe ich angefangen, meinen Job zu wechseln vom Tischler – ich hatte einen Traum irgend­wann als Fitness Trainer zu arbeiten, mit dem Sport etwas zu bewegen. Und es gelang mir ohne Kennt­nisse, in einem Fitness­studio in Bremen. Da habe ich auf Teil­zeit einen Job gefun­den und im Nach­hinein meinen Trainer­schein gemacht. Von 0 Kennt­nissen wurde ich dann Studio­leiter, kann man sagen, ich habe alles auf die Beine gestellt, Kurse geleitet und dann plötz­lich stand das Studio im Rampenlicht. Und da habe ich ange­fangen, meinen ersten großen inter­nationalen Lauf zu machen, das war mein Traum irgendwie.“

Afrika: Namib-Wüstenlauf

Emin da Silva: „Ich hatte in meinen Asylheimen reichlich viele afri­kanische Mitbe­wohner gehabt und es war immer mein Traum, irgend­wann mal in Afrika zu sein. Und durch diese Kontakte habe ich irgend­wann beschlos­sen einen Lauf in Afrika zu machen. Und nach Recher­chen habe ich mir den Namib-Wüsten-Lauf ausgesucht.

Von meinem Gefühl heraus etwas tun zu müssen, einen beson­deren Lauf zu machen, bin ich diesen Lauf ganz, ganz, ganz besonders ange­gangen und habe ganz viel und hart trainiert. Die Medien haben plötz­lich Interesse gezeigt, Sponsoren haben Interesse gezeigt. Ich habe dann in Bremen reich­lich Werbung gemacht, das kam sehr gut an und nachdem ich diesen Lauf gemacht hatte und auch eine gute Plat­zierung hatte, kam ich zurück und plötz­lich wurde ich in Bremen wie ein kleiner Star empfangen.

Und von dort an habe ich, ganz ehrlich muss ich sagen – bei dem ersten großen Lauf durch die Namib-Wüste, auf der höchsten Düne der Welt. Wenn man da lang läuft durch die Dünen, durch über 50 Grad Hitze. In diesen Momenten, auf der höchsten Düne der Welt, habe ich plötz­lich außer­gewöhn­liche Energien entdeckt, die ich gar nicht mehr in Worte fassen kann. Von dort an dachte ich mir, ich bin der mäch­tigste Mensch der Welt. Dass ich so viel in diese Welt wieder zurück geben kann, war meine Gedanke, ich kann in dieser Welt so viel Positives tun, ich kann so vieles jetzt – ich weiß nicht, woher die Kräfte kamen. Warum?

Plötzlich dort durch die Wüste, wo man eigentlich leidet, wo man kämpft, wo man heult. Alles schwer, aber trotzdem ich komme auf die Idee – ich kann dieser Welt helfen, ich kann die Welt retten und so ich habe mich als Retter entdeckt. Und durch den Sport – ich habe gesagt nicht irgendwie als Politiker oder irgendwie sonst – durch den Sport. In mir so eine Wärme entstan­den, jetzt kann ich alles geben für die Welt. Und mit dieser Euphorie kam ich nach Deutschland.“

Brückenbauer und Botschafter

Emin da Silva: „Dann begann mein Gedanke, du bist ein Brücken­bauer, du bist ein Bot­schaf­ter, du bist nicht einfach ein klassischer Läufer. Klassische Läufe haben mich dann irgend­wann nicht mehr interes­siert, einfach nur mit der Masse rein in den Mara­thon, um 3 Minuten schneller zu sein, oder, oder, oder. Dann habe ich gemerkt – jetzt ist es an der Zeit, dass du der Welt etwas zurückgibst.

Du hast eine besondere Aufgabe bekommen, du hast irgend­wie ein beson­deres Talent – mach was. Das hat mir Druck gemacht, das hat mich so katapul­tiert, das hat mich so gestärkt in dem, was ich tue. Und dann wurde aus dem Laufen Liebe. Dass ich beim Laufen ein biss­chen Schmerzen hatte, das hat mich dann nicht mehr interes­siert. Eher habe ich dann die Liebe entdeckt, etwas zurück­zugeben, etwas den Menschen zurück­zugeben, die an der Schatten­seite stehen, die unsere Hilfe brauchen – über den Tellerrand hinauszuschauen.

Das war der Anfang, der Durchbruch meiner bisherigen Karriere – was ich dann alles gemacht habe, um etwas sozial, gesell­schaftlich zurück­zugeben, Menschen zueinander zu bringen, Brücken zu bauen, Dialoge herzu­stellen, Kulturen mitein­ander in Berührung bringen. Diese Aufgabe habe ich einfach in meinem Herzen getragen.

Von dort an begann diese Mission, dieser Gedanke, jetzt machst du mehr, alles was du machst widmest du einem guten Zweck und sammelst Spenden­gelder. Für den ersten Lauf in Afrika habe ich letzt­endlich reichlich Gelder sammeln können. Und dort war die Idee, wenn ich dann dort hingehe, einen guten Zweck zu unter­stützen. Dort gab es eine Schule mit 140 Kindern, die Aids-Waisen waren, die wurden ehren­amtlich von Studenten durch einen Verein begleitet.“

Spendenlauf

Emin da Silva: „Und ich habe dann Gelder aus Deutschland dorthin gebracht, um diese Schule zu unter­stützen. So habe ich in mir eine neue Person entdeckt. Dann ging es los, wie gesagt von dem Zeit­punkt an. 2010/2009 habe ich ange­fangen, seit 12/13 Jahren geht es jedes Jahr perma­nent immer höher und höher. Nicht höher und höher – ich habe mich auch als Sport­künstler oder als Lauf­künstler benannt. Ich mache das, um auf gewisse Dinge aufmerk­sam zu machen. Mache gewisse unterschied­liche Läufe, so etwas Besonderes, etwas Kreatives.

Somit kam ich auf die Ideen, alle mögliche Laufstile zu prakti­zieren, um der Sache zu dienen, dem guten Zweck zu dienen, und beson­dere Aufmerk­samkeit auf die Botschaft zu lenken, nicht auf meine Person. Das sind Sachen, die mir im Nachhinein Jahr für Jahr immer gelun­gen sind. Durch den ersten Lauf in der Wüste begann die mediale Entwick­lung und auch Sponsoren hatten Interesse gehabt.

Auch Leute haben gerne gespendet, weil sie wussten, was ich vorhabe, für was ich es tue. Dann kam so mein inneres Feuer etwas zu tun. Und je mehr ich tat, umso mehr wollte ich tun. Keine Müdig­keit, kein – jetzt reicht es, von wegen drei Mal reicht, das Feuer brennt unend­lich in mir und dieses Gefühl etwas zu tun, etwas für die Gesell­schaft zu tun, ist unend­lich groß und das kriege ich nicht klein.“

Ist man alt mit 48½ Lebensjahren?

Emin da Silva: „Und man denkt eigentlich noch, welche Auswir­kungen gibt es von dieser Art von Läufen, aber ich fühle mich immer noch gut, ich bin jetzt 48 ½, bald werde ich 49. Und jetzt in diesem Alter habe ich mehr Energie, mehr Kraft als damals mit 25. Ja, wie gesagt, jetzt nimmt alles seinen Lauf. Und dann war Ihre Frage, wie kommt man auf solche Ideen, also was spielt da alles eine Rolle. Als letzten Punkt: Ich komme aus einer ganz großen Familie, wir sind 15 Geschwister, 5 sind mittler­weile schon längst gestorben als wir noch Kinder waren und wir 10 sind noch am Leben. Mein Vater arbeitet als Landwirt und wir Kinder gingen in einer kleinen Kreis­stadt in ein Internat, nicht alle natürlich, so 2-3. Und das Leben bei uns war sehr beschwerlich.

In der eigenen Familie mit so vielen Kindern hat man gelernt, seinen Platz zu finden, hat ständig um das kleinste Stück Brot, um eine Mahlzeit kämpfen müssen. Es kann sein, dass mir das auch eine gewisse Widerstands­fähigkeit oder irgendwie ein Kämpfergefühl gegeben hat.

Und durch das Asyljahr in Deutschland war ich natürlich auch noch mehr geprägt, habe noch mehr einen anderen Sinn in meinem Leben entdeckt. Und so kommt eben etwas raus aus mir und das ist kein Zufalls­produkt, es ist mein Weg kann man sagen.“


♦ Okay. Interessant ist ja auch diese kreative Art zu laufen, dass das ein großer Antrieb ist, da was Beson­deres zu machen. – Spiegelt diese Krea­tivität auch einen Teil deiner Persön­lichkeit wider, die du bist?


Emin da Silva: „Ja, ja, ja in der Tat, weil für mich ist das eigentlich so – immer wieder höre ich von vielen Leuten „Ach, der möchte irgend­wie im Rampen­licht stehen“, der eine oder andere Mensch ist darüber auch nicht unbedingt erfreut. Oder sieht es so, wie man es sehen kann.

Aber meine Antwort ist folgende – viele sagen, wozu, Laufen ist ja Laufen, Laufen hat mit seitwärts, rückwärts mit sonst was nichts zu tun. Meine Antwort ist, dass ich mich dann als Lauf­künstler bezeichne. Ich sage Fußball hat mit „Fußball“ zu tun, also Fuß gegen Ball. Und ein Künstler, ein Fußballer benutzt seinen Kopf, um Tore zu schießen, der kann mit dem Hacken ein Tor machen, der kann mit seiner Brust ein Tor schießen. Der kann keine Ahnung mit dem Hintern ein Tor machen. Alles zählt gut, aber ein Läufer sollte so etwas nicht tun?“

Wie kommt man auf die Idee?

Emin da Silva: „Warum kann nicht ein Läufer auch ein biss­chen kreativ und künst­lerisch denken? Ich denke, ein Künstler, ein Maler, ein Picasso hat auch seine Bilder nicht mit einem einzigen Pinsel gemalt, man braucht verschie­dene Techniken, Materialien und sonst was. Und warum soll ein Läufer, ein Lauf-Bot­schafter, ein Lauf-Künstler nicht auch irgend­wie das Laufen ein bisschen bunt gestalten? Das ist meine Antwort.

„Auf einem Bein“ – Emin da Silva beim Wien-Marathon 2021

Es ist nicht so üblich, es ist nicht so zu empfehlen, dass das jeder­mann tun soll und kann, aber ein bisschen eigener Mut ist wichtig, ein biss­chen über den eigenen Teller­rand hinaus­zuschauen ist wichtig. Ein paar Schmerzen gehören dazu, die man durch die Euphorie und Freude ein bisschen wegdenkt. Das sind so Sachen, die mir sehr wichtig sind und dadurch mache ich auch sowas und lasse mich auch gar nicht so ablenken, gar nicht so irritieren davon, wenn jemand sagt „ach das hat mit Laufen nichts zu tun“ –es hat damit zu tun.

Und ich denke vielleicht, der ein oder andere Mensch würde das auch gerne tun, aber lieber erstmal Steine werfen, statt es zu gönnen oder zu würdigen. Es ist so, ich lasse mich keines­wegs von meinem Weg abzulenken. Das kommt vollkom­men von meinem Herzen, ich mache das und das ist meine Person, glaube ich und das ist das Wichtigste – dass man selbst überzeugt ist von dem, was man tut.“


♦ Und dieses Rampenlicht, in das du gerückt wurdest, nachdem du diesen ersten Lauf gemacht hast, hat dir das auch neue Moti­vation gegeben? Also dadurch, dass du die Aner­ken­nung von anderen Personen bekom­men hast und sie dich bewun­dert haben, war das auch ein weiterer Antrieb, neue Läufe zu machen, andere Sachen auszuprobieren? 


Emin da Silva: „Ich denke, das spielt auch sicherlich eine Rolle – wenn das, was du tust, dann auch eine gewisse Resonanz hat und auch in der Gesell­schaft ankommt und wenn jemand dann dafür auch noch spendet. Das spielt denke ich schon eine ganz große Rolle solche Sachen zu machen.“


♦ In der Sportpsychologie spricht man von Selbst­wirk­samkeit, wenn man merkt, dass das, was man tut eine Wirkung hat und dass man dadurch etwas bewe­gen kann, indem man trainiert – und das Training hat eine Funktion und man wird besser, dass man das merkt und dann diese Selbst­wirk­samkeit erfährt. War das auch so bei dir, könntest du das auf dich übertragen? 


Emin da Silva: Ja, in der Tat, genau, das denke ich schon, das spielt eine Rolle für mich diese Art von Läufen zu machen. Das hat mich gestärkt in dem, was ich eigentlich auch selbst gedacht habe, selbst ini­ti­iert habe und das ist auch eine mega Aufgabe – das ist nicht so ohne, sich der Heraus­for­derung zu stellen und selbst eine eigene Idee zu verwirk­lichen, das Training, die Medien zu bewegen, die Spenden zu akqui­rieren, Sponsoren zu überzeugen.“

Wo liegen die Grenzen?

Emin da Silva: „Die ganze Arbeit im Vorfeld ist genauso schwer wie das Laufen bzw. die Aktion selbst. Also bis man den Ball rollt, so weit bringt bis zur Start­linie und dann zur Ziel­linie trägt – sind zwei verschiedene Sachen.

Und da denke ich, das macht einen so richtig stark. Und wenn man dann solche Aktionen bewäl­tigt hat und angekom­men ist – und viele dachten bei meinen Aktionen von wegen „der hat sich wieder ein großes Ziel vorgenom­men, das wird er nicht schaffen, das geht gar nicht, das wird er aufhören“, ständig, immer wieder wird gemun­kelt, immer wieder sagen die Leute, auch irgend­welche Experten, das geht nicht. Aber das ist auch logisch, das ist okay, das ist auch nicht jeder­manns Sache. Wenn man wirklich – ich habe es fest­gestellt – wenn du von dem, was du tust, dich keines­wegs irri­tieren lässt und wirk­lich daran glaubst, auch das Training, die Schmerzen und alles was dazu gehört, dich der Heraus­for­derung wirk­lich stellst, fokus­siert bist auf das Ziel – nichts ist unmöglich, habe ich gelernt, nichts ist unmöglich.

Ich habe mehrmals meine Grenzen gesucht – dieses Wort „Grenzen“ gibt es einfach nicht, die kann man sich selbst stellen, indem man sich selbst Steine in den Weg legt. Man kann sagen, ja dieser Stein ist mir zu hoch, den kann ich nicht hoch­springen. Das geht, man kann Mecha­nismen finden, nicht dauerhaft auf den gleichen Stein hoch­zu­springen – Mechanismen finden, Wege um den Stein herum zu finden, wie etwas machbar ist, wie du etwas erreichen kann.“

Es entwickelte sich mein Glaube an meine sportlichen Möglichkeiten.

Emin da Silva: „Alle meine Projekte, die ich bis jetzt gemacht habe, haben größ­ten­teils mit der eigenen Psyche, mit eigener Stärke, mit dem Glauben an sich selbst zu tun. Ohne diese Mecha­nismen, ohne dieses hundert Prozent davon überzeugt sein, dass alles was kommt, kommen kann – nicht daran zu glauben, dass es schief läuft, sondern daran zu glauben, dass es gut läuft, das stärkt mich sehr. Und immer wieder wurde ich überzeugt davon, dass das der Fall war.

Die Leute haben gesagt – von wegen mach lieber einen Schritt kürzer oder statt einem Mara­thon, mach mal einen Halb­mara­thon oder statt Halb­mara­thon mal 10 Kilo­meter oder mach mal alle 2 Tage Pause dazwi­schen. Jeder hat aus seinem Blick­winkel eine Empfeh­lung gemacht, aber ich habe mich auf den Kern­punkt fokus­siert, darauf, was ich will, und nicht was der andere will. Es ist sehr wichtig, dass man auch sich gut kennt, sich gut einschätzt, nicht einfach so große Töne von sich geben und jede zweite Aktion in den Sand setzen, weil man sich selbst nicht kennt, das geht gar nicht. Solche Leistungen zu erbrin­gen hat sehr viel mit Selbst­be­wusst­sein und fokus­siert sein, der Glaube an sich, dass man es schafft zu tun – und dafür natürlich auch etwas tut, also von nichts kommt ja nichts.“


♦ Wenn du jetzt an Grenzen stößt, wenn du merkst, dass es irgendwo wirklich schwierig wird und der Schmerz viel­leicht sehr groß ist auch in solchen Situa­tionen – wie gehst du dann mit Grenzen und mit Schmerz­er­fah­rungen um, also wie hast du das mental geschafft, damit umzugehen, wenn es mal schwierig wird? 


Emin da Silva: „Also ganz unterschiedlich natürlich bei all den Läufen, ob bei dem in der Wüste, bei dem Lauf Bremen-Istanbul, Rück­wärts­lauf oder Seit­wärts­lauf – ich sage einfach es gibt Schlim­meres im Leben, das ist ja eine Sache, die ich selbst steuere, dass ich noch unter den besten Bedingungen eine Sache angehen.

Ich sage mal einfach so, wie schlimm muss ein Krieg gewesen sein, wie schlimm ist es, dass eine Frau 9 Monate lang eine Schwan­ger­schaft erträgt und noch das Kind auf die Welt bekommt – mein Schmerz kann nie so groß sein wie dieser.“

Selbstgespräche. Die zweite Stimme in mir.

Emin da Silva: „Es gibt schlimmere Dinge im Leben und so motiviere ich mich in solchen Situa­tionen selbst, indem ich dann auch Selbst­gespräche führe, dass ich sage „komm, das ist doch machbar, das ist möglich“, ich setze mich kleine Schritte, ich versuche auch bei Marathons oder Ultra­mara­thons die Strecke in kleinen Abschnitten zu bewäl­tigen. Ich versuche erstmal nicht den ganzen Mara­thons im Kopf zu haben, ich will zwar schon zum Ziel, aber ich gehe in 5 Kilo­meter Schritten voran. Ich sage mir „okay, wenn du jetzt die 5 Kilo­meter gehst, dann fokus­siere dich auf die 10, und wenn du 10 Kilo­meter geschafft hast, dann sind auf jeden Fall auch noch die 20 drinnen. Wenn du zur Hälfte gekom­men bist, die Hälfte ist um, dann geht es den Berg runter. Zwischen­durch kommt ein kleines Tief, aber das ist bald vorbei, du schaffst das, zieh durch – du bist ja nicht gekom­men, um halbe Sachen zu machen.“ So bin ich ständig mit mir am Reden. Ich versuche mir zu sagen, du bist jetzt mitten im Wasser, willst du überleben? – ja – und wenn du überleben willst, was musst du machen – schwimmen.

Und das Ziel ist, am Ufer anzukommen, und wenn du hier aufgibst, gehst du unter. In verschie­denen Situa­tionen kann ich mich so überzeu­gen, kann ich meine Schmerzen igno­rieren oder meine Schmerzen überden­ken, so „du schaffst das“, Schmerzen sind eine Sache und dann ist teil­weise meine Energie stärker als mein Schmerz.

Und irgendwie komme ich an, auch wenn ich viel­leicht mal eine Minute stehen geblie­ben bin, mir viel­leicht sogar Seiten­stechen rausge­pustet habe, mir viel­leicht die Wage kurz mas­siert habe. Statt blind mit Schmerzen weiter­zu­machen, habe ich viel­leicht noch so Hilfs­mittel, schnell dehnen oder mal an der Geträn­ke­station ein Glas Wasser trinken oder ein paar Meter gege­be­nen­falls auch mal zu gehen – statt aufzu­geben. Das wäre mir jetzt zu schade – ein Jahr lang hast du trai­niert, keine Ahnung wie viele Trai­nings­einheiten du hinter dir hast, wie viel du da durch­gehalten hast, und jetzt willst du gerade hier aufgeben, das ist doch dann Kinderkram, rede ich mir ein.“

Höher, schneller, weiter. Das ist „nicht mein Weg“.

Emin da Silva: „Und das gelingt. Vielleicht kommt dann nicht die erwünschte Zeit raus. Mein Ziel ist es, das Ziel zu erreichen, ich gucke gar nicht mehr auf die Uhr, ich, ich gucke rechts und links, ich nutze die Stim­mung, ich begrüße die Leute und gege­be­nen­falls den ein oder anderen Mensch auf der Strecke, den ich sehe, also bei den Veran­stal­tungen ziehe ich mit, motiviere ihn, „komm, komm, komm, du schaffst das“, das alles spielt für mich eine Rolle.

Beim Training habe ich keine Uhr, keine Musik, bin komplett mit mir und der Natur verbun­den, begrüße die Leute, höre mich in meinem Umfeld um. Jedes Training ist für mich wie ein Kino, ich laufe und da ist eine Leinwand vor meinem Gesicht wie im Kino, die geht mit, ständig gucke ich mir immer wieder irgend­welche Ereig­nisse, irgend­welche tollen Strecken, die ich gelaufen bin, irgend­welche tollen Ziel­einläufe, visua­li­siere ich in meinem Kopf, das zieht mich zwischen­durch – meine Seele ist unter­wegs und mein Körper ist anders unter­wegs, da trenne ich die von­ein­ander, da lenke ich meine Schmerzen ab, da habe ich keine großen Schmerzen in dem Sinne. Die habe ich zwar, aber durch die Visua­li­sierung und die Fokus­sierung auf das Schöne, wenn du über die Ziel­linie kommst, du bekommst viel­leicht eine Medaille oder hast das Gefühl „es hat sich gelohnt, die ganzen Trai­nings­ein­heiten, dass du es jetzt geschafft hast“ und es tut mir tat­säch­lich gut, wenn ich über die Ziellinie ankomme.

Dann bin ich nicht mehr zu stoppen von den Euphorien, also du hast vor ein paar Minuten noch geheult von den ganzen Schmerzen, und jetzt bist du über die Ziel­linie und wo sind die Schmerzen geblie­ben? So stellt man sich das vor.“


♦ Jetzt kann ich mir gar nicht vorstellen, dass es bei dir auch mal Tage gibt, wo du mal unmoti­viert bist, wo du mal nichts machen kannst. Gibt es solche Zeiten auch, wo du denkst „eigent­lich müsste ich trai­nieren, aber heute mach ich mal nichts“?


Emin da Silva: „Allerdings, genau das ist meine Stärke. Ich bin in der Tat ein trai­nings­fauler Mensch. Also wenn man jetzt denkt, ich habe jetzt einige Sachen gemacht, dann geht man davon aus, dass ich 24 Stunden irgendwo am Trai­nieren bin oder jede Woche 6-mal am Trai­nieren bin, solche Sachen – gar nicht.“

Ich bin trainingsfaul.

Emin da Silva: „Es gibt viele Tage, wo mir nicht danach ist, und Laufen ist auch nicht unbedingt der Haupt­be­stand­teil meines Lebens. Das ist ein sehr, sehr schönes Hobby für mich, das ich gelegent­lich betreibe, wofür ich aber keines­wegs einen Trai­nings­plan habe. Ich habe auch keines­wegs jetzt den Zwang für mich, heute ist ein Trai­nings­tag, heute musst du trai­nieren, ich habe meinen Trai­nings­plan beiseite gelegt, ich prak­ti­ziere keinen Trai­nings­plan, ich gucke nach meinem Befinden. Ich mache nicht nur Laufen, ich mache verschie­dene Sport­arten als Alter­nativ­training oder als Ablenkung. Ich möchte keine Lange­weile haben, einfach nur geradeaus Laufen, nur Laufen wäre nicht mein Sport.

Dadurch versuche ich an einem Tag je nach meinem Empfinden zu entscheiden – wenn das Wetter schön ist und mir nach Inline­skaten ist, dann gehe ich inline­skaten und nicht laufen. Ich fahre regel­mäßig mit dem Fahrrad zu Arbeit oder zwi­schen­durch gehe ich gerne zum Schwim­men, mache zuhause ein paar Workouts, Eis­laufen tue ich im Winter sehr gerne, immer nach einem Empfinden, nach meinem Gefühl.

Das Lauftraining kommt sicherlich auch mit in das Training rein, zwischen­durch habe ich Lust 3 Stunden am Stück zu laufen, manchmal habe ich Lust 10 Kilo­meter schnell zu laufen. Oder wenn ich mal einen Tag habe, an dem ich viel­leicht inline­skate, dann bringe ich die nach Hause und laufe danach noch 10 Kilo­meter, danach noch 2 Stun­den Radfah­ren, mache so ein Kombi­training, aber nicht so zwanghaft, nicht so krampfhaft – nicht, weil der Trainer das so gesagt hat oder die Uhr das sagt oder der Trainings­plan so ist, nix, also da bin ich vollkom­men mein eigener Boss, mein eigener Ideen­geber, ich dosiere, wann was ist. Wenn mir heute nicht danach ist.“

Es sind meine Entscheidungen

Emin da Silva nach seinem erfolgreichen Lauf „Auf einem Bein“ beim Wien-Marathon 2021

Emin da Silva: „Manchmal, wenn ich rausgehe, vielleicht will ich einen Halb­mara­thon laufen, nach 10 Kilo­meter sage ich „es reicht heute“, so höre ich auf mein Gefühl. Aber wenn es darauf ankommt, auf diese Projekte, die ich ini­tiiere, da bin ich ehrgeizig, da habe ich so viele gute Grund­lagen seit Jahren, die ich immer wieder abrufen kann, da brauche ich nicht so viel Training. Und ich bin mir sicher, wenn ich das tun würde, wäre ich kaputt. Ich kenne einige Leute hier in Bremen, die sind kurz­fristig sehr gut, können sofort bei der deutschen Meister­schaft teil­nehmen, aber nur für ein oder zwei Jahre, dann sind sie weg vom Fenster, weil sie komplett den Trai­nings­plan hart umgesetzt haben, keine richtige Regene­ration hatten und ständig einseitig trainiert haben. Mit Bänder­riss, Ermü­dungs­bruch oder Lust­losig­keit, sowas – und ich spüre das nicht.

Für mich ist jetzt, wenn ich eine große Aktion beendet habe, diese Zufrie­den­heit, dieses Gefühl, diese posi­tiven Energien um mich herum bei der Veran­staltung – alles ins­gesamt, die ganze Moti­vation, die Zufrie­den­heit die Sachen abgeschlos­sen zu haben, nehme ich so mit, adé ist gut. Und dann nehme ich mir fast einen Monat Zeit, tue gar nichts, fahre zwischen­durch entspannt Fahrrad, mache zuhause ein paar Dehn­übungen. So einen Monat komme ich ganz runter, viel­leicht mache ich komplett eine andere Sport­art statt Laufen, so läuft meine Saison. Ich mache das so wie ein Bär.“

Winterschlaf und Ruhe

Emin da Silva: „In der Winterzeit ist meistens die Zeit, in der ich passiv bin, nicht ganz in den Winter­schlaf gehe, aber fast, da rege­neriere ich mich, mein Körper erholt sich, da nehme ich 1-2 Pfunde zu, gönne mir auch immer wieder etwas Fettiges bzw. Fast Food, ich habe ja auch keinen festen Plan und esse alles – Gott sei Dank.

Dann beginnt meine Saison, so ab Ende März, Anfang April, wenn die Sonnen­strah­len da sind, dann beginne ich bis Ende Okto­ber ungefähr zu trai­nieren. Das ist für mich die Jahres­zeit, um zu trai­nieren oder eine Veran­staltung zu initi­ieren. In den Trai­nings­zeiten fange ich an zu fanta­sieren, kreativ zu denken, was könntest du dieses Jahr für dich als Motto nehmen? Was juckt dich? Was könnte dir passen, zu meiner Person, zu der Veran­staltung? Dann bin ich fast 2, 3, 4 Monate in diesen Gedanken, 3, 4, 5 Ideen produ­ziere ich, versuche jedes Mal die ein oder andere Ideen zu elimi­nieren, Vor- und Nach­teile abzuwägen – bis ich dann bei einer oder zwei Sachen bleibe, dann versuche ich nochmal etwas inten­siver zu denken. Wenn ich mich zu einer Sache entschie­den habe, kommt das Gefühl, diese Energie, jetzt fokus­sierst du dich auf diesen einzigen Punkt.

Dann komme ich nach Hause und rede mit meiner Frau, frage sie, was sie dazu denkt, ob sie eine Idee dazu hat, ob das okay ist oder nicht. So reden wir darüber und wenn ich merke, dass mein Herz schlägt, mein Kopf gut ist, mein Gefühl macht das, meine Füße sind bereit, dann mache ich eine Ankün­digung in der Öffent­lich­keit. Dann sage ich, was mein Motto ist, wo ich laufe und mit welchem Laufstil.

Ganz entspannt, ohne Zwang, ohne Druck – alles läuft einfach so, wie es sein soll. Ich habe von nie­mandem Druck, keine bestimmte Dosis. Alles läuft, auch mit den Sponsoren, den Medien, den Spenden, dem guten Zweck läuft alles entspannt. Und die Menschen auf der Straße wür­digen das, viele in Bremen kennen mich sehr gut, wir machen ein Foto oder einen kurzen Small­talk oder sie laden mich ein in ihre Schule, in ihren Verein. Das Rund­um­paket ist so angenehm, so schön, dass ich dann wieder Freude daran habe, jedes Jahr meine Zeit einem guten Zweck zu widmen und eine Mission, eine Aufgabe erfüllt zu haben. Das ist die Freude daran.“


Markus Gretz♦ Ja, vielen Dank für die Zeit, die du dir genom­men hast, deine Geschichte zu erzählen und mir näher zu berichten, was dich ange­trieben hat, was dich moti­viert, wie du dich auch in schwie­rigen Situa­tionen durch­kämpfen kannst. Ich denke, da kann man aus sportpsy­cho­lo­gischer Sicht sehr viel mitnehmen.


Emin da Silva: „Ich danke dir für diese Presse, dieses Interview und für diese Frage­stellung, das freut mich auch sehr.“

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Das komplette Interview von Markus Gretz mit Emin da Silva
zum Anhören – und Nachlesen.

Quelle: Dieser Artikel von Markus Gretz wurde veröffent­licht am 30. November 2021 auf DIE SPORTPSYCHOLOGEN

Ein Gedanke zu „Emin da Silva: Vom Flüchtling zum Laufkünstler

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