« Die Motivation ist ein großes Thema in der Sportpsychologie. Zahlreiche Studien, Methoden und Theorien gibt es in dieser thematischen Ecke. In diesem Text wollen wir uns aber nicht nur von einer wissenschaftlichen Seite dem Thema Motivation annehmen, sondern ein extrem außergewöhnliches Praxisbeispiel nutzen. Es geht um einen Sportler, der als Rückwärtsläufer oder Ein-Bein-Hüpfender Höchstleistungen vollbringt. » (Ein Artikel von Markus Gretz, Sportpsychologe)
Zum Thema: Leistungsmotivation im Sport
Emin da Silva hat 2021 den Marathon in Wien auf einem Bein hüpfend durchgestanden. Auch vorher hat er schon spezielle Langdistanzläufe z.B. rückwärts, oder an mehreren Tagen in Folge absolviert und sieht sich selbst als „Laufkünstler“. An seiner Lebensgeschichte und aus seinen Schilderung kann man gut nachvollziehen, wozu wir Menschen in der Lage sind, und was uns dabei vor allem antreibt.
In einem längeren Gespräch, das hier (Link zum Interview) vollständig nachzulesen und nachzuhören ist, erklärte mir Emin wie er vor 30 Jahren als 18-jähriger Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist. Vor allem die ersten zehn Jahre in Deutschland beschreibt er als schwierige Zeit, die ihn sehr stark geprägt und in der ihm der Sport viel Halt gegeben hat. Ohne Arbeit und mit wenig Perspektiven suchte und fand Emin im Sport Freude, Freundschaften und Ziele, zunächst als Fußballspieler und schließlich auch beim Laufen: „Der Sport war für mich der Hauptanker, womit ich mir dann in der Gesellschaft einen gewissen Platz erarbeiten konnte.“
Wie Emins erstes Ziel entstand
An seinem Beispiel sehen wir eindrücklich, dass Sport gerade für junge Menschen ein Potential besitzt, Orientierung an Werten und Zielen zu finden und sich in einer Gesellschaft zu positionieren. Emin nutzte diese Chance, indem er nach zehn schwierigen Jahren in Deutschland als Asylbewerber 2002 einen Friedenslauf veranstaltete:
„Ich wollte die zehn Jahre, in denen ich hier halbwegs nichts tun konnte, als Botschaft geben und einen Friedenslauf machen. Und so begann insgeheim plötzlich eine andere Art von Energie in mir, dass ich da irgendwie etwas machen sollte. Das habe ich gemacht und es hat eine ganz große Anerkennung gefunden. Auf die zehn Marathons in zehn Tagen habe ich mich ein halbes/dreiviertel Jahr gut vorbereitet gehabt, statt fünf km habe ich dann längere Dauerläufe gemacht. Und in zehn Tagen bin ich von Hamburg nach Berlin gelaufen, das war quasi der Durchbruch und so richtig das Ankommen in Deutschland.“
Motivation und Antrieb
An diesem Beispiel kann man aus sportpsychologischer Sicht sehen, dass Motivation und Antrieb besonders gut wirken können, wenn sie sich perfekt in die eigene Lebensgeschichte einbinden lassen und mit den eigenen Werten verknüpft sind. Für Emin scheinen der Frieden und das Gefühl der Befreiung nach zehn harten Jahren wichtige Empfindungen gewesen zu sein. Diese konnte er in sportliche Motivation umwandeln und nutzen. Er verknüpfte mit dem Durchstehen des extremen Laufs nicht nur den sportlichen Erfolg, sondern auch ein symbolisches Ankommen in der neuen Heimat.
Als Emin nach einer beruflich harten Zeit, in der ihm wiederum der Sport viel Halt gegeben hat, schließlich die Studioleitung eines Fitnessstudios übernahm, ergab sich die nächste große sportliche Herausforderung. Er wollte einen großen internationalen Lauf machen und kam durch afrikanische Freunde aus der Asylbewerberunterkunft auf einen Lauf in der Namib-Wüste.
Die Kraft der Anerkennung
„Von meinem Gefühl heraus etwas tun zu müssen, einen besonderen Lauf zu machen, bin ich diesen Lauf ganz, ganz, ganz besonders angegangen und habe ganz viel und hart trainiert. Die Medien haben plötzlich Interesse gezeigt, Sponsoren haben Interesse gezeigt. Ich habe dann in Bremen reichlich Werbung gemacht, das kam sehr gut an und nachdem ich diesen Lauf gemacht hatte und auch eine gute Platzierung hatte, kam ich zurück und plötzlich wurde ich in Bremen wie ein kleiner Star empfangen.“
Die Anerkennung und das Interesse der Mitmenschen, Medien und Sponsoren kann ein besonderer Antreiber sein, da wir Menschen als soziale Wesen immer auf der Suche nach Anerkennung und Wertschätzung sind. Dieses Grundbedürfnis kann man auch im Sport immer wieder beobachten und auch für sich selbst zunutze machen, indem man anderen von seinen sportlichen Herausforderungen berichtet.
Unbeschreibliche Energien in Ausnahmesituationen
„Wenn man da lang läuft durch die Dünen, durch über 50 Grad Hitze. In diesen Momenten, auf der höchsten Düne der Welt, habe ich plötzlich außergewöhnliche Energien entdeckt, die ich gar nicht mehr in Worte fassen kann. Von dort an dachte ich mir, ich bin der mächtigste Mensch der Welt. Dass ich so viel in diese Welt wieder zurückgeben kann, war mein Gedanke. Ich kann in dieser Welt so viel Positives tun. Ich kann so vieles jetzt – Ich weiß nicht, woher die Kräfte kamen. Warum?“
In Ausnahmesituationen kann der Mensch durch die körpereigenen Hormone Höchstleistungen vollbringen. Adrenalin, Noradrenalin und andere Botenstoffe und Stoffwechselprozesse helfen dem menschlichen Körper über seine normale Leistungsfähigkeit hinaus zu gehen. Auch im Gehirn wird diese zusätzliche Energie positiv wahrgenommen. Die Erfahrung dieser Phänomene lässt schließlich auch die Selbstwirksamkeitserwartung wachsen. Man erlebt sich dann als besonders stark und kann diese Stärke auch in der Zukunft in neuen herausfordernden Situationen nutzen, wenn man sich immer wieder daran erinnert.
Immer neue Herausforderungen für den guten Zweck
Anschließend folgten viele weitere extreme Läufe, bei denen Emin durch seine gefundene außergewöhnliche Kraft, Spenden für Hilfsorganisationen sammeln wollte. Auch bei dem Lauf durch die Namib-Wüste sammelte er schon Spenden für eine Organisation in der Region. Emin verknüpfte also die Leistungsmotivation im Sport mit einem Ziel, dass seinen Werten entsprach und mit dem er nicht nur sich selbst sondern auch für andere nützlich war. Auch hier ist der soziale Aspekt der menschlichen Psyche besonders auffällig. Wenn wir Menschen eine Leistung für andere vollbringen, fällt es uns oft deutlich leichter und wir fühlen uns im Nachhinein auch meist noch wesentlich besser.
„Das war der Anfang, der Durchbruch meiner bisherigen Karriere – was ich dann alles gemacht habe, um etwas sozial, gesellschaftlich zurückzugeben, Menschen zueinander zu bringen, Brücken zu bauen, Dialoge herzustellen, Kulturen miteinander in Berührung bringen. Diese Aufgabe habe ich einfach in meinem Herzen getragen. Von dort an begann diese Mission, dieser Gedanke, jetzt machst du mehr, alles was du machst widmest du einem guten Zweck und sammelst Spendengelder.“
Freiheit ist ein großer Motor
Emin hat in seinem Leben schon oft erfahren, was es bedeutet, nicht frei zu sein. Als Asylbewerber durfte er zum Beispiel lange Zeit das Bundesland Bremen nicht verlassen. Wir Menschen haben aber ein sehr großes Autonomiebedürfnis. Wir wollen über uns selbst entscheiden und eigene Wege gehen. Wenn andere ihm gesagt, haben, dass etwas nicht geht, hat ihn das oft noch mehr angespornt, es zu versuchen.
„Die Leute haben gesagt – von wegen, mach lieber einen Schritt kürzer oder statt einem Marathon, mach mal einen Halbmarathon oder statt Halbmarathon mal zehn Kilometer oder mach mal alle zwei Tage Pause dazwischen. Jeder hat aus seinem Blickwinkel eine Empfehlung gemacht, aber ich habe mich auf den Kernpunkt fokussiert, darauf, was ich will, und nicht was der andere will. Es ist sehr wichtig, dass man auch sich gut kennt, sich gut einschätzt, nicht einfach so große Töne von sich geben und jede zweite Aktion in den Sand setzen, weil man sich selbst nicht kennt, das geht gar nicht. Solche Leistungen zu erbringen, hat sehr viel mit Selbstbewusstsein und fokussiert sein, der Glaube an sich, dass man es schafft zu tun – und dafür natürlich auch etwas tut, also von nichts kommt ja nichts.“
Eigene Fähigkeiten einschätzen lernen
Selbstbewusstsein heißt also, seine eigenen Fähigkeiten einschätzen zu lernen und die Möglichkeit zu erkennen, dass diese Fähigkeiten auch teilweise veränderbar sind.
„Wenn du von dem, was du tust, dich keineswegs irritieren lässt und wirklich daran glaubst, auch das Training, die Schmerzen und alles was dazu gehört, dich der Herausforderung wirklich stellst, fokussiert bist auf das Ziel ist nichts unmöglich. Das habe ich gelernt: Nichts ist unmöglich. Ich habe mehrmals meine Grenzen gesucht – aber dieses Wort „Grenzen“ gibt es einfach nicht, die kann man sich selbst stellen, indem man sich selbst Steine in den Weg legt. Man kann sagen, ja dieser Stein ist mir zu hoch, den kann ich nicht hochspringen. Das geht, man kann Mechanismen finden, Wege um den Stein herum zu finden.”
Ein Laufkünstler und Laufbotschafter
Emin nutzte dieses Streben nach Selbstbestimmung schließlich auch in seiner Kreativität. Er sieht sich selbst als Laufkünstler und Laufbotschafter. Dabei will er immer wieder etwas Besonderes machen und lässt sich dabei durch seine eigenen Gefühle treiben.
Und so läuft er für seine Botschaften vorwärts, rückwärts, seitwärts und einbeinig durch die Welt und sucht nach neuen „Grenzen“, die er überwinden kann. Vielen Dank für diesen Einblick und die Inspiration!
Quelle: Dieser Artikel des Sportpsychologen Markus Gretz wurde veröffentlicht am 30. November 2021 auf DIE SPORTPSYCHOLOGEN