Manchmal sagen Zahlen mehr als tausend Worte. Bei Emin da Silva scheint dies definitiv der Fall zu sein. 240 Kilometer in 45 Stunden ohne Pause auf dem Laufband, 63 Marathons an 63 aufeinanderfolgenden Tagen von Bremen bis zur türkischen Grenze oder 110 Kilometer bei 40 Grad Celsius in der ältesten Wüste der Welt inklusive Endspurt auf die weltweit höchste Düne – dabei innerhalb von zehn Jahren 60.000 Euro gesammelt und damit unzähligen hilfsbedürftigen Menschen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.
Ohne Frage, Emin da Silva ist ein Mann der Superlative. Und diese schlängeln sich wie ein dicker roter Faden durch das Leben des 46-jährigen Bremers. Geboren in einem kleinen Dorf im Osten der Türkei, wuchs er mit 14 Geschwistern in einer Großfamilie auf. Seine Kindheit war geprägt durch den kurdisch-türkischen Konflikt. Kurz vor der Verpflichtung für den Militärdienst entschloss er sich, seiner Heimat den Rücken zu kehren und die Flucht nach Deutschland anzutreten. Allein wagte er den Aufbruch in eine ungewisse Zukunft, nach einer 40-tägigen Odyssee durch Europa erreichte da Silva schlussendlich mit 70 weiteren Flüchtlingen seine neue Heimat: die Hansestadt Bremen.
28 Jahre ist das jetzt her, und aus dem schüchternen und unsicheren Asylbewerber von einst ist ein selbstbewusster Mann in den besten Jahren geworden, der sich mittlerweiler einer gewissen lokalen Prominenz erfreut und den Deutschlands wohl berühmtester Extremsportler Joey Kelly einmal als „noch viel verrückter als ich“ bezeichnete. „Das Schöne daran ist, dass ich mir meine Bekanntheit dadurch erworben habe, indem ich anderen Menschen helfe“, freut er sich. Doch der Reihe nach. Die ersten Schritte in der neuen Heimat waren noch eher steinig. „Ich kannte die Sprache nicht, die Kultur war mir fremd und ich war allein“, blickt da Silva zurück. Der Start in sein neues Leben sei nicht ganz so optimal verlaufen, wie er heute bilanziert. So manch bürokratische Hürde gilt es zunächst zu überwinden. Zehn Jahre muss er warten, bis sein Asylantrag schlussendlich bewilligt wird. Er darf nicht arbeiten, lediglich warten, hoffen, bangen … eine Dekade lang.
König Fußball als Türöffner
Dennoch weiß er die Zeit zu nutzen. Da Silva lernt die Sprache und öffnet damit die ersten Türen zur Integration. Er tritt dadurch zunehmend selbstbewusster auf und lernt, auf die Menschen zuzugehen. Zudem wird König Fußball zur weiteren Eintrittskarte in die Gesellschaft. Er spielt im Verein und findet schnell Anschluss, auch bei seinen deutschen Mitspielern. „Durch Sport gelang mir der größte Brückenschlag zu den Einheimischen“, sagt da Silva, der schon während seiner Kindheit und Jugend begeisterter Fußballer war und mit Gleichaltrigen auf den Hinterhöfen in seinem abgelegenen Heimatdorf kickte. Und auch die bürokratischen Hürden werden nach und nach kleiner. Da Silva holt seinen Schulabschluss nach und absolviert eine Ausbildung zum Tischler. Sein Gesellenstück – ein aufwendig gestalteter Schrank – ziert noch immer seine Wohnung und erinnert ihn als Symbol für seine erfolgreiche Integration an die ersten Jahre in der neuen Heimat.
Ohne Frage, da Silva hat Geduld bewiesen und hart dafür gearbeitet, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Aber er ist auch dankbar, und er möchte etwas zurückgeben. „Der Sport bot sich hier als ideale Plattform an.“ Mit dem frisch bewilligten Asylantrag in der Tasche, joggt er symbolisch von Hamburg nach Berlin „in die Freiheit“. An Spendengelder und Sponsoren denkt er jener Tage noch nicht. „Ich wollte lediglich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen und andere Menschen motivieren, an ihre Träume zu glauben, ihre Ziele weiterzuverfolgen und sich nicht von Rückschlägen aus der Bahn werfen zu lassen – ganz gleich, wie diese Ziele aussehen“, erklärt er seine damaligen Beweggründe.
Bei seiner nächsten Aktion rücken erstmals auch karitative Zwecke in den Fokus. Ende 2010 läuft er 110 Kilometer durch die namibische Wüste und sammelt Spenden für ein lokales Schulprojekt. Im Jahr darauf wiederholt er den Lauf und trotzt erneut zugunsten karitativer Zwecke der hochsommerlichen Hitze im südwestafrikanischen Land. Da Silva weiß damit das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken. „Da habe ich Lunte gerochen und gemerkt, dass man mit Sport jede Menge Gutes bewirken kann – und das nicht nur für den eigenen Körper.“ Weitere Aktionen folgen. Beim Bremer Marathon ist er mittlerweile Stammgast. Diesen jedoch lediglich wie alle anderen zu absolvieren, ist da Silva nicht genug. Er legt die Strecke rückwärts, auf einem Bein, mit verbundenen Augen oder wie im vergangenen Oktober mit dem Ball jonglierend am Fuß zurück. Damit unterstützt er die verschiedensten gemeinnützigen Projekte und Institutionen.
2013 dann folgt sein „Lebenslauf“. Beim Heimspiel gegen Schalke wird da Silva von 40.000 Menschen lautstark aus dem Weserstadion verabschiedet und bricht auf zu einer Reise, die ihn in den darauffolgenden 63 Tagen an seine körperlichen und emotionalen Grenzen bringen soll. 63 Marathons läuft er, durchquert dabei acht Länder – bis an der bulgarisch-türkischen Grenze Endstation für ihn ist. Da sind sie wieder, die bürokratischen Hürden. Der letzte Streckenabschnitt samt Endspurt über den Bosporus wird da Silva von den türkischen Behörden verwehrt. „Das war eine meiner größten Enttäuschungen. Damit hatte ich nach all der akribischen Vorbereitung nicht gerechnet. Ich konnte es lange nicht fassen und brauchte einige Zeit, dies zu verdauen“, blickt er auf jene Tage im Frühsommer 2013 zurück. Doch mit Resignation hätte es Emin da Silva ganz sicher weder ins Weserstadion und schon gar nicht an die Grenze seines Heimatlandes geschafft. So bedient er sich einer modifizierten Weisheit Sepp Herbergers und sagt sich „nach der Aktion ist vor der Aktion“, läuft für Tierschutzbund, Blindenhilfe oder Kinderheime.
Der Bundespräsident sagt „Danke“
Der Bremer Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) macht da Silva darüber hinaus zu seinem hauptamtlichen Integrationsbeauftragten und Jugendhelfer in der Flüchtlingshilfe, eine perfekte Personalentscheidung. Irgendwann kommt der Dank, den da Silva mit seinen Aktionen zum Ausdruck bringen möchte, zurück – von allerhöchster Stelle sogar. Bundespräsident Joachim Gauck lädt da Silva 2014 zu sich ins Schloss Bellevue und ehrt ihn für sein Engagement. „Das war schon eine faszinierende Erfahrung, dass der höchste Mann im Staat, mir, dem ehemaligen Asylanten, dankt“, sagt da Silva noch immer mit einem Strahlen im Gesicht. Selbstverständlich legte er die Strecke von Bremen nach Berlin auch nicht mit dem Auto oder dem Zug zurück, sondern per pedes im Laufschritt.
Zu seinem 45. Geburtstag macht sich da Silva dann ein Geschenk der besonderen Art. Für jedes Lebensjahr schwitzt er auf dem Laufband eine Stunde… am Stück, ohne Pause und medienwirksam mitten im Bremer Einkaufszentrum Weserpark. Gesellschaft leisten ihm dabei jede Menge „Mitläufer“, darunter auch Willi Lemke und Werder-Boss Marco Bode. Natürlich ist auch dieser Lauf wieder für die gute Sache. Am Ende freuen sich der Bremer Sportgarten und der Verein FluchtRaum über die Spendenerlöse.
Mit dem Wüstenlauf in Namibia gab da Silva vor zehn Jahren den Startschuss zu seiner Sportler-Karriere im Dienste der Menschlichkeit. Rund 60.000 Euro konnte er bis zum heutigen Tag so zusammenlaufen. Und ein Ende ist nicht absehbar. Im Gegenteil, die Planungen zu seiner nächsten Aktion laufen bereits auf Hochtouren. Im November möchte er die neue Welt erobern – beim New York Marathon. Und da die konventionelle Teilnahme am wohl berühmtesten Langstreckenlauf der Welt Emin da Silva nicht genug ist, möchte er die 42,195 Kilometer lange Strecke im Rückwärtsgang zurücklegen. Wie immer geht es ihm dabei nicht um die Zeit und Platzierung. „Ich möchte eine Botschaft rüberbringen“, bringt es der 46-Jährige auf den Punkt. Und natürlich soll das Ganze auch wieder einem wohltätigen Zweck zugute kommen. Dieses Mal ist es der ASB-Wünschewagen, der todkranken Menschen noch einmal Freude schenkt und lang gehegte Wünsche erfüllt, der von der Aktion am Big Apple profitieren wird. Die ersten Trainingseinheiten sind absolviert, und momentan ist da Silva auf der Suche nach Sponsoren, die ihn bei seinem Vorhaben unterstützen möchten.
Emin da Silva ist ein Paradebeispiel dafür, dass es sich lohnt, fest an seine Träume zu glauben und kontinuierlich daran zu arbeiten. „Ich habe es stets geschafft, mich trotz aller Rückschläge zu motivieren und konnte dadurch meine Ziele erreichen“, sagt er und fügt hinzu: „Das möchte ich gern weitergeben und die Menschen motivieren.“
Seit Kurzem ist der 46-jährige Extremsportler und Sozialarbeiter auch als Referent unterwegs. In seinen Vorträgen verdeutlicht er an seinem eigenen Beispiel, dass mit Arbeit und Geduld sowie dem Glauben an sich selbst und die eigenen Stärken Unmögliches möglich werden kann. Neben seiner Arbeit beim ASB, der ihn bei all seinen Vorhaben nach allen Kräften unterstützt, bildet sich da Silva derzeit zum Motivations-Coach fort. Die Ziele sind ihm noch nie ausgegangen und das neue Ziel, anderen Menschen zu helfen, ihre eigenen zu erreichen, verfolgt Emin da Silva mit ebenso viel Elan wie den anvisierten Zieleinlauf beim nächsten New York Marathon … rückwärts der Zukunft entgegen.
Quelle: Dieser umfangreiche Artikel von Eike Nienaber wurde im April 2019 veröffentlicht im Magazin „Mittendrin“ der Mediengruppe Kreiszeitung (Verlagssonderveröffentlichung Lifestyle-Freizeit-Gesundheit)
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