Als ob ein Marathon nicht Strapaze genug wäre
Emin da Silva (40), der im Frühjahr von Bremen bis an die Grenze der Türkei lief, sorgte beim Bremen-Marathon erneut für Aufsehen.
Bremen Emin da Silva? Ist das nicht der „Verrückte“, der im Frühjahr vom Weserstadion aus bis in die Türkei laufen wollte? Genau der ist es! Und weil für den Extremsportler ein normaler Marathon mit 42,195 Kilometern eigentlich keine große Herausforderung mehr ist, hat er sich entschieden, den Bremen-Marathon, sein 79.! in diesem Jahr, am vorigen Sonntag einfach mal rückwärts zu laufen. Nicht nur zum Spaß, sondern auch, um auf die Situation der Asylbewerber in Deutschland aufmerksam machen.
„Mir hat der Sport damals sehr geholfen und deshalb möchte ich diesen Gästen in unserer Stadt helfen, für ein paar Stunden aus der Tristesse ihres Daseins in ihren Asylbewerberunterkünften zu entfliehen“, sagt da Silva. Seit einigen Wochen trainiert er ehrenamtlich eine Gruppe von Asylbewerbern. „Nur wenn wir diesen Menschen dabei helfen, schaffen sie es, sich in Deutschland zu integrieren.“
Zwar war da Silva bereits im Vorjahr den Halbmarathon in Bremen rückwärts gelaufen, aber mit der Marathondistanz betrat auch er Neuland. Nur wer einmal selbst versucht hat, auch nur einige wenige Meter rückwärts zu laufen, wird sich vorstellen können, was sich der 40-jährige Bremer Extremsportler am Sonntag vorgenommen hatte. „Ich musste mich die ganze Zeit über voll konzentrieren, um nicht zu stolpern oder irgenewo gegen zu laufen. Normalerweise lande ich beim Laufen auf dem Mittelfuß und rolle über den Vorfuß ab. Am Sonntag musste ich die ganze Strecke auf dem Vorfuß laufen, was dazu führte, dass meine ganze Beinmuskulatur über fast sechs Stunden dauerhaft unter Spannung stand“, berichtet da Silva.
Von seiner Freundin auf dem Fahrrad begleitet, machte er sich Sonntagmorgen um 9.45 Uhr mit 1700 anderen Marathonläufern auf die 42,195 Kilometer lange Runde durch Bremen. „Die erste Hälfte lief sehr gut, und ich bin beim Halbmarathon mit 2:20 Stunden durchgegangen und habe dabei noch viele Läufer überholt.“ Die Ziel-Zeit von fünf Stunden lag hier noch voll im Bereich des Möglichen.
Probleme im Bürgerpark
Im Bürgerpark begannen dann aber die Probleme. Mehrere Baustellen und enge, verwinkelte Wege machten das Laufen schwer und forderten noch mehr Konzentration als zuvor. „Auf der Schlachte dachte ich ans Aufgeben, aber ich wusste ja, dass bei Kilometer 37 einige der Läufer, die ich trainiere, auf mich warteten, um mich ins Ziel zu begleiten. Ohne sie hätte ich es nie geschafft.“ Aber nicht nur seine Mitläufer halfen ihm, die Qualen zu überstehen, sondern auch die zahlreichen Zuschauer, die ihn aufmunternd anfeuerten. „Es ist schon toll, was der Emin alles auf sich nimmt, um anderen zu helfen“, befand dann auch eine Anwohnerin am Rande der Strecke. Man kennt und mag den sympathischen Sportler in Bremen, der auch stehend K.O. noch für jeden ein Lächeln und ein freundliches Wort übrig hat.
Krämpfe schmerzen
Auf den letzten Kilometern musste er dann auch mehrfach aufgrund der verkrampften Oberschenkel kurz stehen bleiben und fragte sich selbst: „Warum tue ich mir das nur an?“. Mit einem Seitenblick auf seine Mitläufer gab er sich dann selbst die Antwort. Nach 5:38:43 Stunden hatte er es dann unter dem Jubel der Zuschauer geschafft, am Bremer Roland ins Ziel einzulaufen.
Zweiundzwanzig Jahre ist es her, dass Emin da Silva als Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland kam. Es folgten zehn Jahre als Asylbewerber, in denen er nicht nur nicht arbeiten durfte, auch wurde ihm immer wieder vor Augen geführt, dass er nicht bei allen willkommen war. „Das zehrte schon ganz schön am Selbstvertrauen und manch einer meiner Freunde ist daran zerbrochen und hat einen falschen Weg eingeschlagen. Wenn Du nichts zu tun hast, werden die Tage ganz schön lang und man kommt schon einmal auf dumme Gedanken. Wer weiß, wo ich heute wäre, wenn ich den Sport nicht gehabt hätte.“ Ein Freund nahm ihn 1993 mit zum Laufen. Als er verletzungsbedingt mit dem Fußballspielen aufhören musste, widmete er sich ganz dem Laufsport. Es dauerte nicht lange bis er an ersten Wettkämpfen teilnahm. Erst über fünf Kilometer und dann über zehn. Länger erst einmal nicht. Damit der Körper sich auf die neue Belastung einstellen konnte.
Fehler beim 1. Marathon
Vier Jahre später folgte dann in Hamburg der erste Marathon. „Ich habe hier alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Drei Wochen lang konnte ich mich anschließend kaum bewegen. Danach bin ich erst einmal kaum gelaufen und habe mich anderen Sportarten wie dem Inlineskaten gewidmet. Erst 2002 bin ich wieder eine Langdistanz gelaufen.“ Dann aber gleich richtig. In zehn Tagen lief er beim Friedenslauf von Hamburg nach Berlin zehn Marathons. Mittlerweile hat er das Streben nach Zeiten und Platzierungen komplett aufgegeben. „Wenn ich bei einem Lauf an den Start gehe, will ich etwas Gutes tun. Dieser Sport hat mir so viel gegeben in der schwersten Zeit meines Lebens, jetzt möchte ich ein wenig davon zurückgeben.“
108-km-Wüstenlauf
Zweimal hat er an einem 108 Kilometer langen Wüstenlauf in Namibia teilgenommen, um Spendengelder für Waisenkinder zu sammeln. So stehen überhaupt häufig Kinder im Mittelpunkt seiner Spendenläufe. „Kinder sind unsere Zukunft, sie haben es verdient, dass man etwas für sie tut.“ Da ist es nur natürlich, dass auch sein bisher längstes Projekt Kindern zu Gute kam.
Im Frühjahr dieses Jahres startete er vor dem Fußball Bundesligaspiel zwischen Werder Bremen und Schalke 04 zu seinem Lebenslauf von Bremen nach Istanbul. Die Strecke war seiner Flucht aus der Türkei vor 22 Jahren nachempfunden. Der Plan war, an 67 Tagen 67 Marathons zu laufen. „Ich war so voller Euphorie und habe mich so gut gefühlt, dass ich auch noch länger hätte laufen können.“ Aber es sollte nicht sein. Nach 63 Tagen beendeten die türkischen Behörden da Silvas „Lebenslauf“, indem sie ihm die Einreise verweigerten. Da nützte es wenig, dass er für einen guten Zweck unterwegs war. Trotzdem profitierten am Ende acht Kinderprojekte in acht Ländern von seinem Engagement.
Quelle: Dieser Artikel von Bernd Teuber wurde veröffentlicht
in der NORDWEST-ZEITUNG am 9. Oktober 2013