Der Bremer, der auf einem Bein Marathon lief: „Die Leute dachten, ich wäre verletzt“

Der Bremer Emin da Silva hat sich als Extrem-Läufer einen Namen gemacht. Zuletzt absol­­vierte er den Marathon in Wien auf einem Bein. Ein Gespräch über Schmerzen und kuriose Reaktionen.  

Ein Interview von Jean-Julien Beer mit Emin da Silva

Herr da Silva, Sie sind den Marathon in Wien auf einem Bein gelaufen. Wie ging es Ihrem Körper in den Tagen danach?

Emin da Silva: Ganz ehrlich: Ich war kaputt. Ich brauchte Massagen und musste Mine­ra­­lien auftanken. Mein ganzer Körper bettelte nach Energie. Meine Frau hat Spaghetti zube­­rei­tet, so viel, dass es normal für zwei Tage gereicht hätte. Ich habe alles am ersten Tag gegessen.

Sie haben für die 42,195 Kilometer sechs Stunden und 18 Minuten gebraucht. Allein das ist schon anstrengend. Welches Körperteil tut danach am meisten weh, wenn man die Strecke auf einem Bein läuft?

Die Hüfte. Diese Schmerzen kamen am Tag nach dem Marathon extrem auf. Ich konnte morgens kaum auf­stehen und oder gehen, es fühlte sich an, als hätte ich Blei in der Hüfte. Die Knie­kehlen und der Rücken taten auch weh, die Waden waren ange­schwol­len – und die Schultern schmerzten sehr.

Warum die Schultern?

Weil man beim Laufen völlig andere Armbe­we­gungen macht, wenn man auf einem Bein hüpfen. Da schwingen die Arme nicht locker mit. Die Bewegung ist eher ruck­artig, als würde man ständig in einen Boxsack schlagen. Das habe ich am nächsten Tag zu spü­ren bekommen.

Sie sind nicht 42 Kilometer auf einem Bein gehüpft, sondern haben die Beine gewechselt. Wie lief das ab?

Ich habe das vorher ausprobiert und mir je nach Strecken­­profil einen Rhythmus aus­­ge­­dacht. Es macht ja einen Unter­­schied, ob die Straße flach ist oder es berg­hoch oder runter geht. Ich habe meistens alle vier Schritte das Bein gewech­selt, manch­mal auch alle sechs oder acht Schritte. Würden Sie zehn Minuten auf einem Bein hüpfen, könnten Sie es danach viel­leicht noch zehn auf dem anderen Bein schaffen – und dann wären Sie fertig. So würden Sie keinen Mara­thon schaffen. In Wien kam noch die Hitze dazu, es war einer der wärmsten Mara­thons, die ich je gelaufen bin.

Sie sind ein erfahrener Extrem-Läufer. Wie tanken Sie Ihren Körper während eines Marathons auf?

Wenn man stark schwitzt, verliert man dadurch viele Minera­lien. Die muss man wieder auffül­len. Nur mit Wasser geht das nicht. Zwischen­durch eine Orange oder Banane, das ist wichtig, auch ein Mineral­drink oder ein Gel. Man sollte aber vorher testen, welchen Drink der Magen verträgt. Sonst kann man sich die Freude am Marathon schnell verderben.

Wie lange haben Sie die Nummer mit dem einen Bein trainiert?

Ich habe seit Jahren ein gutes Grund­lagen­training, das ist die Basis. Die Ausfüh­rung mit dem einen Bein konnte ich aller­dings kaum trai­nieren. Es blieb lange offen, ob der Marathon in Wien überhaupt statt­fin­den würde. Mir fehlte also das klare Trainings­ziel. Immerhin hatte ich es beim Bremen-Marathon 2017 mal für einen guten Zweck aus­pro­biert, auf einem Bein zu laufen, aber nur auf zehn Kilo­metern. Damals hatte ich das mehr trai­niert als jetzt vor dem Mara­thon. Im Juni und Juli bin ich mal ein biss­chen auf einem Bein gehüpft, wenn ich auf meiner Lauf­strecke an einer Treppe vorbei kam. Oder beim Seil­sprin­gen, um meine Musku­latur zu stabi­li­sieren. Leider wurde ich im August krank und musste Anti­biotika nehmen. Den Monat vor Wien konnte ich also gar nicht laufen. Das war schlecht und kostete viel Kraft.

Wie haben Sie es trotzdem geschafft?

Ein wenig lag es auch daran, dass ich mich im Frühjahr mit ein paar Freunden zu einer Alpen­über­querung verab­redet hatte, für Ende August. Ich dachte: Eins von beiden klappt, entweder mit dem Ruck­sack über die Alpen, oder der Wien-Marathon. Kurz vor der Alpen­über­querung wurde ich gesund, also habe ich das wie ein Höhen­trai­nings­lager für den Mara­thon genutzt. Das war mein Glück, die Bergluft hat mir gut getan. Das war letzt­lich meine Vorbe­reitung auf den Marathon.

Was waren die größten Herausforderungen während des Laufes, um das auf einem Bein durchzuhalten?

Bei einem Marathon kann alles passieren. Man kann dehy­drieren, man kann zu schnell beginnen, man kann zu wenig oder zu viel trinken. Den perfek­ten Mara­thon zu laufen, ist fast unmög­lich. Auch Welt­re­kord­halter kom­men nicht immer ins Ziel. Bei meinem Lauf in Wien hing ein Bein im­mer ange­winkelt in der Luft, mit der Zeit bekam ich deshalb starke Krämpfe. Durch die unge­wohnte Belas­tung gibt es auch Schmer­zen in der Hüfte. Ich erlebte aber auch uner­war­tete Probleme, etwa an den Verpfle­gungs­ständen. Dort lagen Bana­nen­schalen und es war nass, und wenn man auf einem Bein dort ankommt, kann das gefähr­lich sein. Ich wäre fast ausge­rutscht. Bei den wei­te­ren Ständen bin ich deshalb auf zwei Beinen zu den Getränken gelau­fen, um Stürze zu vermei­den. Danach aber wieder auf ein Bein zu wech­seln, das war brutal – für den Körper und für den Kopf. Viele Zuschauer oder Helfer dachten übrigens, ich wäre verletzt und wollten mir helfen. Denen musste ich erklären, dass ich den ganzen Mara­thon auf einem Bein laufe und alles mit mir okay ist.

Wie haben die Leute reagiert?

Sie konnten es nicht glauben. Viele haben die Handy gezückt und mich fotografiert.

Nach wie vielen Kilometern hat Ihre innere Stimme gesagt: Hör doch auf, das tut zu weh?

In der Tat merkte ich schon nach zehn Kilo­metern: Das wird heute eine Grenz­erfah­rung. Der Punkt war einige Male da, wo ich mich gefragt habe, ob ich aufhöre. Beson­ders schwierig war es, als man die Chance hatte, den Lauf als Halb­mara­thon zu beenden. Da ging es in meinem Kopf hin und her: Biegst du jetzt auch ab und bist gleich fertig? Aber dann sagte ich mir: Du bist nicht für halbe Sachen nach Wien gekom­men. Als die Halb­mara­thon­läufer von der Strecke waren, wurde es sehr einsam. Die Abstände zwischen den Läufern wurden groß. Immer mehr Zuschauer gingen nach Hause. Dann begann der Kampf mit mir selber. Diese Einsam­keit war brutal. Vor Ende wurde es noch einmal schwierig.

Warum?

Alles tat weh, und die Strecke in Wien wurde zu einer langen Geraden, ohne Abwechs­lung. Ich hatte das Gefühl, ich komme nicht voran. Dann sah ich in der Ferne den Besen­wagen anrol­len, der die letzten Läufer einsam­melt. Das hat mich ange­spornt. Ich sagte mir: Der holt dich nicht ein! Und so habe ich es bis ins Ziel geschafft. Man muss lernen, die Schmerzen zu kontrollieren.

Das klingt einfach, aber wie macht man das?

Es ist alles eine Sache des Kopfes und des Trainings. Man sammelt mit den Läufen Erfah­rungen. Krämpfe oder Seiten­stechen, das passiert immer wieder. Das kann man durch Dehnen und leichte Schläge in den Griff bekom­men, bei Seiten­stechen durch die Atmung. Man muss sich immer sagen: Du schaffst das! Du musst daran denken: Die Freude, wenn du am Ende die Medaille hast, wird größer sein als jeder Schmerz.

Sie sind schon den Marathon in New York rückwärts gelaufen. Was ist schwieriger?

Es ist beides schwierig. Beim Rückwärts­laufen kommt noch der Schmerz im Nacken und in den Augen dazu, weil man sich im­mer umschauen muss. Zum Glück hatte ich zwei befreun­dete Läufer dabei, die mir ein wenig den Platz frei gesperrt haben. Es war ungewöhn­lich, aber auch atem­berau­bend schön, die Skyline von New York zu sehen und die Strecke, die man schon zurückgelegt hat.

Wollen Sie nicht mal vorwärts in New York laufen, um die Skyline richtig zu sehen?

Nein, das wäre nichts mehr für mich. Ich bin in meinem Leben mehr als einhun­dert Mara­thons gelaufen. Für einen normalen Marathon könnte mich nicht motivieren. Da fehlt mir der Reiz.

Sie haben den anderen Läufern in New York immer ins Gesicht geschaut. Unterhält man sich da?

Das war schon komisch, das stimmt. Viele der Läufer haben mich gefragt, was ich da mache. Einige fühlten sich auch provo­ziert, dass ich den Marathon rück­wärts laufe. Das ist schließ­lich schon vorwärts eine enorme Heraus­for­derung. Die meisten fanden es aber originell und haben Fotos oder Videos gemacht.

Wie oft gehen Sie während einer normalen Woche in Bremen laufen?

Vielleicht einmal, und dann auch nur fünf Kilometer. Sonst würde mir das Laufen keinen Spaß mehr machen. Ich fahre auch Fahrrad oder gehe Schwimmen, die Bewegung muss mir aber immer Spaß machen. Wenn ich keine Freude daran habe, funktioniert es nicht.

Sie sind mal 45 Stunden im Weserpark auf dem Laufband gerannt, in New York rückwärts und nun auf einem Bein. Wie entstehen diese Ideen?

Das reift in meinem Kopf. Auch beim Laufen. Wenn ich eine fixe Idee habe, muss ich mir noch überle­gen, wie ich das meiner Frau beibringe. Sie unter­stützt mich aber ganz toll, sie war auch in Wien mit dabei.

Welche Idee steht demnächst an?

Es gibt keine Frage, die ich öfter höre. Aber ganz ehrlich: Ich weiß es noch nicht. Das ist wie nach einem guten Essen: Dann ist man schön satt und denkt nicht daran, was man morgen essen wird. Ich muss erst einmal genießen, dass ich es wirk­lich geschafft habe. Mit der Zeit überlege ich mir eine neue Heraus­for­derung, mit der ich Spenden für einen guten Zweck sammeln kann. Das ist ja das Schönste daran: Ich laufe nur, mehr als ein Paar Turn­schuhe, eine Hose und ein Shirt braucht man dafür nicht. Aber ich kann damit so viel Gutes tun.

Das Gespräch führte Jean-Julien Beer.

 

Zur Person

Emin da Silva (48) wurde als Extremsportler mit spekta­kulären Lauf­ak­tionen bekannt. Er arbeitet als Jugend­sozial­arbeiter in Bremen und ist zudem gelernter Tischler und Fitness­trainer. Er kam als Flüchtling nach Deutsch­land und lebt im Stephaniviertel.

Zur Sache

Alles für den guten Zweck

Als Emin da Silva nach seiner Flucht aus der Türkei 1991 viele Jahre auf seine Anerken­nung als Flüchtling in Deutsch­land warten musste, begann er mit dem Laufen. Seine Heimat hatte er wegen des drohenden Militär­dienstes verlas­sen. Mit seinen spekta­kulären Läufen sam­melt er Spenden­gelder für wohl­tätige Zwecke, zuletzt für die Opfer der Flut­katas­trophe in Deutschland. Einmal lief er 67 Mara­thons am Stück von Bremen bis in die Türkei, der Lauf seines Lebens. Nach eigenen Angaben hat er schon mehr als 60.000 Euro an Spenden­geldern eingesam­melt. Als ihn Bundes­prä­sident Joachim Gauck zur Würdi­gung seines sozia­len Enga­ge­ments ins Schloss Bellevue einlud, lief er zu Fuß von Bremen nach Berlin.

←   zurück

 

Quelle:  Dieser Artikel von Jean-Julien Beer (Chef­repor­ter Sport beim Weser-Kurier) wurde veröf­fent­licht im Weser-Kurier am 6. Oktober 2021